Es ist Sommer. Ferienzeit. Außenseiter
Nr. 1 begegnet Außenseiter Nr. 2. Ersterer heißt Maik Klingenberg,
kommt aus einer dysfunktionalen Berliner Familie (Mutter
Alkoholikerin, der Vater hat sich verspekuliert) und ist schwer
verliebt, schwer frustriert und mindestens genauso gelangweilt. Und
außerdem der Ich-Erzähler. Ein scheinbar durchschnittlicher Typ.
Unauffällig: „Ich hatte nie einen Spitznamen. Ich meine, an der
Schule. Aber auch sonst nicht. […] Wenn man keinen Spitznamen hat,
kann das zwei Gründe haben. Entweder man ist wahnsinnig langweilig
und kriegt deshalb keine Freunde, oder man hat keine Freunde. […]
Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit. Es kann sein, dass
man langweilig ist und keine Freunde hat. Und ich fürchte das
ist mein Problem.“
Der zweite Außenseiter heißt Andrej
Tschichatschow. Kurz: Tschick. Er ist Maiks neuer Mitschüler mit
russischem Migrationshintergrund. Und diesem zunächst alles andere
als sympathisch. Doch als die beiden anscheinend die einzigen sind,
die nicht zur großen Party zum Ferienbeginn eingeladen sind, stiehlt
Tschick kurzerhand ein altes Auto und nimmt Maik mit auf eine Reise
quer durch Deutschland, ohne Ziel, ohne Karte, ohne nachzudenken.
Von hier an entwickelt sich das Buch
wie ein Road Movie. Die beiden liefern sich Verfolgungsjagden mit der
Polizei und begegnen allen möglichen schrägen Persönlichkeiten.
Scheinbar lose werden Episoden an Episoden gehängt, doch in Wahrheit
entsteht ein mitreißender Erzählfluss, ohne Umwege aber mit viel
Sprachgeschick. Zwischen den Zeilen werden viele große Themen
angeschnitten. Die Alkoholsucht der Mutter. Die finanzielle Pleite
des Vaters. Vorurteile gegen Ausländer. Sexualität und
Homosexualität. Freundschaft. Und die Suche nach dem Ich. Aber
keines dieser Themen wird überstrapaziert, keines in den Mittelpunkt
gerückt. Sie sind alle da. Zur gleichen Zeit. Nebeneinander. Und
ergeben ein stimmiges Ganzes.
Die Stimme des jugendlichen Erzählers
ist zuweilen derb, aber ohne aufgesetzt zu wirken. Die Episoden sind
unterhaltsam und witzig erzählt. Der Text schafft es, auf den über
250 Seiten nie pathetisch zu werden. Fast beiläufig wird Spannung
aufgebaut. Mit großer Leichtigkeit ist es dem Autor gelungen, den
Moment des Dazwischens einzufangen. Den Übergang zwischen Kind- und
Erwachsenendasein in mehrere eindrucksvolle Bilder zu verpackend.
Passend dazu ist die Sprache im Text auch irgendwo dazwischen und
kann so Leser aus unterschiedlichen Altersgruppen ansprechen.
Alle diese Qualitäten machen „Tschick“
zu einem ganz besonderen Buch. Wolfgang Herrndorf schickt seine
beiden Protagonisten auf eine wundersame Reise durch die deutsche
Pampa und die Leser können es sich auf der Rückbank bequem machen,
die Fahrt ins Ungewisse miterleben. Manchmal wahnwitzig komisch, dann
aber auch wieder sehr berührend. Insgesamt ein sehr schönes Buch,
das ich sicher nicht zum letzten Mal gelesen haben werde. (MP)